Über das Leben und die Taten Alexanders des Großen berichtet die biografisch-fiktive Erzählung des antiken Autors Pseudo-Kallisthenes. Seit der Abfassung der ursprünglichen, griechischen, heute verlorenen, Version des Epos zwischen dem 3. Jh. v. Chr. und dem 3. Jh. n. Chr. entstanden in den nachfolgenden Jahrhunderten verschiedene Textversionen des Alexanderromans, die heute in griechischer, lateinischer, armenischer, persischer und osmanischer Sprache vorliegen. Aus der Frühphase der Entstehung des Archetypus haben sich keine illustrierten Handschriftenkopien erhalten. So datieren die ältesten, erhaltenen, illustrierten Handschriftenkopien der Alexandergeschichte ins 13. und 14. Jh. Ab dieser Zeitspanne lässt sich eine bis ins 19. Jh. stetig wachsende Produktion an illustrierten Handschriftenkopien zum antiken Alexanderroman in verschiedenen Kulturbereichen beobachten.
Aus dem byzantinischen Kulturkreis existieren heute lediglich zwei illustrierte Handschriften des pseudo-kallisthenischen Werkes, Oxford, Bodleian Library, Ms. Barocci 17 (13. Jh.) und Venedig, Istituto Ellenico. Cod. gr. 5 (2. H. 14. Jh.). Bereits vor dem 13. Jh. wurde die Alexanderfigur in byzantinischen Textquellen vielfach rezipiert. Ab dem 10. Jh. taucht verstärkt in der byzantinischen Enkomiastik und Panegyrik die vergleichende Gegenüberstellung von der Person des historischen Alexanders des Großen und den byzantinischen Kaisern auf. Demnach diente die Alexanderfigur in panegyrischen Schriften des 10. Jhs. als ein positives Paradigma, das im späten 11. und 12. Jh. verstärkt mit dem Herrscherhaus der Komnenoi in Verbindung gebracht wurde. So wurde in Lobreden und Gedichten der byzantinische Kaiser als der neue oder zweite Alexander bezeichnet, bis schließlich der Höhepunkt der kaiserlichen Verherrlichung in der spätbyzantinischen Zeit erreicht und Alexander der Große zum mythischen Vorfahren erhoben wurde.
Neben der byzantinischen Rezeption des Alexanderromans drang die Alexanderfigur in weitere, nicht-byzantinische Kulturkreise ein, die sich vom lateinischen Westen, über das Byzantinische Reich, bis in den Orient erstreckten. Dabei wird Byzanz eine hervorgehobene Rolle bei der Tradierung des Alexanderromans in andere Kulturzentren zugeschrieben. So wurde im lateinischen Westen um die Mitte des 10. Jhs. eine griechische Textversion des Alexanderromans durch den Archipresbyter Leo von Neapel in die lateinische Sprache übersetzt und das Bild der Alexanderfigur an die soziokulturellen und politischen Verhältnisse des Westens angepasst. Die dabei entstandene lateinische Textübersetzung, die unter der Bezeichnung Historia de preliis Alexandri Magni bekannt ist, bildete die Grundlage für weitere Textversionen des Alexanderromans in verschiedenen Volkssprachen Europas. Zahlreiche illustrierte Handschriftenkopien der Historia de preliis entstanden, deren Illustrierungen zum einen byzantinische Bildformeln zeigen, zum anderen ikonografisch und stilistisch eine lokale Bildsprache wiedergeben. Darüber hinaus wird in der Illustrierung der ältesten, armenischen Handschriftenkopien des Alexanderromans die byzantinische Bildsprache verwendet. Die armenischen Handschriften stammen aus dem 14. Jh. und zeigen im Narrativ die bildliche wie auch textliche Gegenüberstellung zwischen Alexander dem Großen und Christus. Auch im Persischen und im Osmanischen Reich fand die Übernahme des antiken Epos in die zeitgenössische Literatur statt. Hier wurde Alexander der Große, zu einem persischen Helden und König verändert, übernommen. Im persischen Nationalepos Shahnama (Buch der Könige) von Firdausi (1010 fertigstellt) fügt sich somit die Alexanderfigur in die rechtmäßige Nachfolge unter den persischen Königen ein, während in der osmanischen Literatur Alexander eine erstrangige Rolle im Epos Iskendername (Alexander-Buch, 1394 fertiggestellt) des osmanischen Dichters Ahmedi einnimmt, der den Bezug zum osmanischen Herrscherhaus schuf. Denn zwischen religiöse und wissenschaftliche Abhandlungen wurde im Iskendername die Geschichte des osmanischen Herrschergeschlechts eingebettet. Auf der Grundlage dieser literarischen Werke entstanden ab dem 14./15. Jh. illustrierte Handschriften der Alexandergeschichte, die zu propagandistischen Zwecken und der Legitimierung des Machtanspruchs der jeweiligen Herrscherdynastie dienten. Dabei wurde das Alexanderbild an den jeweiligen Kulturkreis angepasst.
Ausgehend von diesen Beobachtungen ist das Ziel dieses Dissertationsprojektes die Frage nach dem archetypischen Bildzyklus des Alexanderromans von Pseudo-Kallisthenes. Dabei wird der Versuch unternommen, die Illustrierung des heute verlorenen byzantinischen Archetypus mithilfe der erhaltenen illustrierten Handschriften zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion hat zum Ziel die Veränderungen in den Bildrezensionen so weit wie möglich zu bewerten, zu erklären und zu interpretieren. Dementsprechend befasst sich die Untersuchung mit der Rezeption der Alexanderfigur in den erhaltenen illustrierten Handschriften des Alexanderromans innerhalb der genannten Kulturkreise. Dabei werden die transkulturellen Prozesse in den einzelnen illustrierten Handschriftenkopien der Alexandergeschichte vom 13. bis zum 15. Jh. analysiert und somit die Rezeption von Bildinhalten und ihre Bedeutung im jeweiligen Kunst- und Kulturkreis beleuchtet. Hierfür werden die kulturellen und politischen Verhältnisse jedes einzelnen Kulturkreises in ihrem historischen Kontext untersucht und in Verbindung zu den einzelnen Textillustrierungen gesetzt.
Die Basis für die kunsthistorische Analyse bilden die Bildzyklen der byzantinischen illustrierten Handschriftenkopien aus der Alexandergeschichte. Diese werden zusammen mit den Miniaturen aus den lateinischen und armenischen Handschriften verglichen. Essentiell für die Rekonstruktion der ursprünglichen Illustrierung ist zusätzlich die Auseinandersetzung mit den Szenen aus den islamischen Illustrierungen der persischen und osmanischen Handschriftenkopien zur Alexandergeschichte. Erweitert wird die Analyse durch die Untersuchung des Text-BildVerhältnisses der verschiedenen Handschriftenkopien. Dabei stützt sich die Untersuchung auf edierte, übersetzte Textversionen der Handschriftenkopien, besonders der persischen und osmanischen Alexandergeschichte. Mit dem Vergleich der verschiedenen Bildredaktionen soll die Frage beantwortet werden, ob es trotz der unterschiedlichen Textfassungen eine gemeinsame Bildtradition gab. Im weiteren Schritt werden die erhaltenen byzantinischen und nichtbyzantinischen Textillustrierungen mit Darstellungen aus anderen Kunstgattungen zum Alexanderroman verglichen, um die Illustrierung des Archetypus präziser nachzeichnen zu können. Darüber hinaus ist zu analysieren, unter welchen Umständen das positive Alexanderparadigma in Byzanz entstehen konnte. Daher wird sich die Untersuchung neben dem Alexanderroman auf andere byzantinische Textquellen ausdehnen, um zu klären, ob neben dem positiven Alexanderbild in Byzanz womöglich auch ein Negatives bestand. Folglich ist zu fragen, inwiefern ein heidnischer König zum Ideal für den christlichen, byzantinischen Kaiser werden konnte. An die Untersuchung der Rezeption der Alexanderfigur in Byzanz schließt sich letztendlich die Frage an, welche Rolle Byzanz in der Rezeption der Alexanderfigur für andere Kulturkreise spielte und wie Alexander der Große in der Textillustrierung anderer Kulturen im Zeitraum zwischen dem 13. und 15. Jh. rezipiert wurde. Mit der kunsthistorischen Analyse leistet das Dissertationsprojekt gleichzeitig einen Beitrag zur Erschließung des Kulturtransfers zwischen dem byzantinischen Kulturbereich und den westlichen und östlichen Kulturen vom 13. bis zum 15. Jh.